1889: Ein Sommer auf dem Land
Der Sommer 1889 brachte ein für den jungen Frost bedeutsames Erlebnis: Nach mehreren Umzügen wohnte die Familie auf der kleinen Farm des Ehepaares Bailey, und Robert packte dort mit an. Zum ersten Mal bekam er hier Einblicke in die Landwirtschaft, vor allem in die Arbeiten rund um die Heuernte. Loren Bailey zeigte Robert, wie er mit den Geräten und Werkzeugen umgehen musste, von denen sich viele später in seinen Gedichte wiederfinden: etwa die Heugabel (pitchfork) in The Code, einem Gedicht von 1914 über die grobe Art, wie Bauern und Landarbeiter miteinander reden und umgehen, oder der Schleifstein (grindstone) im gleichnamigen Gedicht von 1923 als "Metapher für die Herausforderungen, die Kümmernisse und unbefriedigten Sehnsüchte der Kindheit" (Henry Hart). In demselben Gedicht – wie in einigen weiteren (The Tuft of Flowers, 1913, Mowing, 1923, The Quest of the Purple-Fringed, 1942) – taucht auch die Sense (scythe) auf, das universelle Symbol für Macht, Gefahr und Tod, zu dem Lawrance Thompson schreibt: "Rob lernte neben dem diffizilen Vorgang, ein Sensenblatt an dem schlangenförmigen Stiel zu befestigen – was schon einen Kult für sich allein darstellt –, die allerwichtigste Übung, nämlich, dieses genial konstruierte Werkzeug richtig zu schwingen." Die Arbeiten, die er zu verrichten hatte, waren zwar schwierig, aber auch von erzieherischem Belang für den Jungen aus der Stadt, der noch nicht zu einem neuen Heimatgefühl gefunden hatte. Sie boten ihm das Gefühl einer Verwurzelung und eines Ziels. Darüber hinaus schenkte dieser Sommer auf dem Land Frost frühzeitig neben vielen praktischen Fertigkeiten auch einen Grundvorrat an zeichenhaftem Vokabular, den er zeit seines Lebens erweiterte und auf den er immer wieder zurückgriff.Im selben Sommer widmete sich Robert auch außerschulischem Lesestoff, unter anderem der dreibändigen History of the Conquest of Mexico des Historikers William H. Prescott. Diese Lektüre wurde zur Grundlage seines ersten veröffentlichten Gedichts, La Noche Triste. Die Schilderung der dramatischen Ereignisse in der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli 1520, als die spanischen Besatzer unter großen Verlusten aus der aztekischen Hauptstadt Tenochtitlán fliehen mussten, hatte in dem Fünfzehnjährigen stürmische Gefühle ausgelöst, die dazu führten, dass ihm auf dem Nachhauseweg von der Schule die Zeilen wie von selber zuflogen. "Es war windig und dunkel", erinnerte er sich später, "niemals zuvor hatte ich ein Gedicht geschrieben, und während ich ging, erschien es mir wie eine Offenbarung, und ich war so ergriffen, dass ich zu spät zu meiner Großmutter kam". An deren Küchentisch schrieb er dann in einem Zug die einhundertsiebenundzwanzig Verse nieder, und die Ballade erschien im folgenden Frühjahr 1890 auf der ersten Seite des High School Bulletin. Später sagte er, viele seiner Gedichte seien ihm in ähnlichen Momenten gekommen, in denen er das "zweite Gesicht und das zweite Gehör" erlebte, wie er es von seiner Mutter gelernt hatte.
In seinem zweiten Highschooljahr freundete sich Frost mit einem zehn Jahre älteren Mitschüler an, Carl Burrell, der nach einer Reihe von Jahren, in denen er von Gelegenheitsjobs gelebt hatte, auf die Highschool zurückgekehrt war. Er hatte ein Zimmer bei Frosts Großonkel gemietet, und Robert besuchte ihn oft nach der Schule. Carl war stark an Bildung interessiert, war auch dichterisch begabt und stolz auf seine direkte Abstammung von William Blake. Er lieh Robert Bücher von Charles Darwin und Thomas Huxley und machte seinen jüngeren Mitschüler so mit der Evolutionstheorie bekannt. Robert, der oft mit angehört hatte, wie sich seine gläubige Mutter und sein atheistischer Vater über derartige Themen angegiftet hatten, fand in Carl einen Brückenbauer zwischen den scheinbar so feindlichen Welten der Religion und der Naturwissenschaft. Belle Frost, die von Darwins Ideen wenig begeistert war, versuchte ebenfalls eine Brücke zu bauen und gab ihrem Sohn ein Buch zu lesen, das auch Carl besaß: Our Place among Infinities des englischen Astronomen Richard Proctor. Bell schätzte Proctor wegen dessen Haltung, dass der Glaube nicht durch die Wissenschaft, und die Wissenschaft nicht durch religiöse Skrupel beeinträchtigt werden dürfe.