1891/92: Highschoolabschluss und Bekanntschaft mit der Großen Liebe (2. Teil)
In Lawrence beging man das jährliche Abschiedsfest der Highschool als großes feierliches Ereignis im großen Saal des Rathauses mit allem Pomp, zu dem Amerikaner bei derartigen Gelegenheiten immer schon fähig waren. Als gewählter "Klassendichter" hatte Robert auch – mit Hilfe von Elinors Mutter – eine Hymne verfasst, die zum Abschluss der Feier gesungen werden sollte, ihr Text war im Programmheft abgedruckt. Seiner Abschiedsrede hatte er den Titel A Monument to After-thought Unveiled gegeben, und jetzt, als er sie vor versammeltem Publikum halten sollte, wurde er von Minute zu Minute nervöser. Immer schon war es für ihn eine Qual gewesen, vor einer größeren Zuhörerschaft frei sprechen zu müssen.Während der vorhergehenden Ansprachen (er war ausgerechnet der dreizehnte Redner!) ging er immer wieder das Manuskript seiner Rede durch, in die er alle seine Ideale und Erkenntnisse der letzten Jahre eingearbeitet hatte. Er hoffte, die Zuhörer würden anerkennen, wie sehr er sich bereits auf eine Laufbahn als Dichter vorbereitet hatte. Während Elinors Rede, die vor ihm an der Reihe war, erreichte seine Nervosität den Höhepunkt. Er stahl sich aus dem Saal (vorsorglich hatte er einen Platz nahe der Tür gewählt), suchte nach einem Waschbecken, machte sein Taschentuch nass, wusch Gesicht und Nacken damit und trocknete sich behelfsmäßig mit dem Jackenkragen ab. Dann kam er so weit zurück, dass er Elinor sprechen hören konnte, und ging vor der Tür auf und ab. Ihr Thema hieß: Conversation as a Force in Life, Robert kannte die Rede praktisch auswendig, da sie sich gemeinsam intensiv auf ihre Auftritte vorbereitet hatten. Als sie zum Schluss gekommen war und Beifall aufbrandete, schlich er sich auf seinen Platz zurück.
Der Beifall endete, das Rascheln verstummte. Jetzt war der gefürchtete Augenblick gekommen. Von Angst beinahe überwältigt, sprang er auf und hastete zum Rednerpult. Er atmete tief durch und begann die einstudierten Worte wie Geschosse abzufeuern. Viel zu schnell ratterte er seine Rede herunter, die Zuhörer konnten kaum folgen, und obwohl er das erkannte, konnte er nichts dagegen tun.
Er hatte die Ansprache so entworfen, dass sie am Ende in seine Hymne mündete. Nun wurde sie von allen gesungen – ein verborgenes Selbstporträt Frosts als wandernder poetischer Träumer, als "Märchenprinz, dessen Gaben des Lebens mühevolle Wirklichkeit in ein Lied verwandeln", wie Hart schreibt. Auch einen Hinweis auf seine Verbindung mit Elinor hatte Frost darin versteckt, wie er es noch in vielen Gedichten tun sollte: … A dreamer hither often wanders / And gathers many a snow-white stone … Snow-white (englisch auch für Schneewittchen) sollte auf das Band zwischen Frost und White hindeuten.
Endlich konnte Robert – mit hochrotem Kopf, Bauchschmerzen und vor Aufregung zitternd – auf seinen Platz zurückkehren. Schon Momente später rief ihn – unerwartet – der Schulinspektor zurück auf die Bühne, um den Hood Prize an Robert Lee Frost zu verleihen, eine Goldmedaille als Anerkennung für den besten Schüler des Jahrgangs. Am folgenden Tag brachten die Lokalzeitungen Berichte über die Abschlussfeier. Die Ansprache von Elinor White wurde als "ein äußerst nachdenkliches und preiswürdiges Werk, voller gesundem Menschenverstand und origineller Gedanken und von feiner Geisteskraft und Kultur" bezeichnet. Von Robert Frosts Rede hieß es, sie habe "in seltenem Maße poetisches Denken, ein feines Spektrum an Vorstellungskraft und Hingabe an ein hohes Ideal miteinander kombiniert." Ein weiterer Bericht bemängelte allerdings einige sprachliche Manierismen: Zwar gestand der Reporter zu, dass die Rede eine "großartige Leistung" gewesen sein, die Recherchearbeit und Gedankentiefe gezeigt habe. "Nach Meinung einiger Zuhörer hätten ihre Vorzüge jedoch bei einer natürlicheren Sprechweise besser zur Geltung kommen können."
Auch Elinor war für den Hood Prize im Gespräch gewesen. Sie mag sich mit dem Gedanken getröstet haben, schreibt Hart, dass sie die Mentorin der Rede ihres Freundes war und die Muse für die Klassenhymne. Und diese Rollen würde sie, ob ganz freiwillig oder nicht, für die kommenden fünf Jahrzehnte spielen. Ihre Enkelin Lesley Lee Francis erinnert sich: "RF erzählte in der Familie, niemals habe er ein Gedicht geschrieben, ohne dabei Elinor im Sinn gehabt zu haben. Jedes einzelne, sagte er, habe sich in irgendeiner Weise auf sie bezogen."
Am Tag nach der Feier ging Robert in einen Juwelierladen in Lawrence und verkaufte seine Goldmedaille. Über die Motive gehen die Ansichten der Biografen auseinander: Thompson gesteht Frost quasi höhere Beweggründe zu, indem er schreibt, dies sei weniger aus Armut geschehen, vielmehr habe sich Frost von seiner idealistisch-rebellischen Verachtung für Konventionen leiten lassen. Dabei beruft sich der Biograf unter anderem auf eine Passage in Frosts Ansprache vom Tag zuvor, in der er gesagt hatte, die Menschen formten Gewohnheiten, die zu heldenhafter Genialität führten, nur indem sie sich von alltäglichen Konventionen abwendeten und sich im Gespräch mit sich selbst eigene Gedanken und Nach-Gedanken machten. Die Vorbereitung auf die Abschlussrede habe Frost zu gewissen Entscheidungen verholfen, darunter die, dass die Zeit für ihn gekommen sei, sich von der Masse abzusetzen. Hart möchte dieser Argumentation nicht folgen, sondern vermutet, es seien doch eher finanzielle Gründe gewesen, die Frost zu diesem Schritt veranlasst hätten. Er und Elinor hatten nämlich beschlossen zu heiraten, und Frost, achtzehnjährig, wollte die Hochzeit seinem Temperament entsprechend ohne Verzug in Angriff nehmen und dafür, so Hart, brauchte er Geld.