Aus der Biografie 9

1893: Der Dichter als Fabrikarbeiter

Robert bewarb sich am Dartmouth College, einer renommierten Universität in Hanover, New Hampshire, wo er ein Stipendium bekam. Für Elinor hatten ihre Eltern ein Studium an der St. Lawrence University in Canton im Staat New York vorgesehen. Der Abschied von ihr machte Robert Frost schwer zu schaffen. Aus ihren Briefen las er eine große Zufriedenheit mit ihrem Studienort heraus, was ihn misstrauisch machte. Er argwöhnte, sie käme mit der Trennung besser zurecht als er, nicht zuletzt, weil sie dort männliche Gesellschaft hätte. Da er auch mit den Anforderungen des akademischen Lebens und im Umgang mit seinen Kommilitonen Probleme hatte, beendete er – "deprimiert, liebeskrank und voller Heimweh" (Thompson) – noch vor Ablauf des ersten Semesters das Studium in Dartmouth, in der Überzeugung, er habe genug von höherer Bildung genossen. Was er jetzt noch benötigte, war eine plausible Entschuldigung für den Abbruch des Studiums. Er fand sie in den enormen Schwierigkeiten, die seine Mutter mit den "Dumpfschädeln" unter ihren Achtklässlern hatte, und schlug ihr vor, an ihrer Stelle den Unterricht in Salem zu übernehmen. Was sie bräuchten, so Frost, sei eine starke männliche Hand. Tatsächlich gelang es ihm, erst seine Mutter und dann die Schulleitung zu überzeugen, dass er der Richtige für diese Aufgabe sei. Er besorgte sich einen Vorrat an soliden Rohrstöcken, legte sich (auch körperlich) mit den ärgsten Rabauken in der Klasse an, und es gelang ihm, die Aufmerksamkeit, wenn nicht sogar die Zuneigung der anderen Schüler zu gewinnen. Frost gab zu, es habe leider mehr physische Überredungskunst gebraucht, als er ursprünglich gedacht hatte. Erziehungsmethoden, "für die heute ein Lehrer im Gefängnis landen würde" (Parini), waren zu jener Zeit als Mittel zur Disziplinierung durchaus an der Tagesordnung.
Sehr bald wusste Frost, dass Schulunterricht auf die Dauer nichts für ihn sein würde. Er hielt bis zum Ende des Schulsemesters im Frühjahr 1893 durch, damit die "Big Boys" nicht behaupten konnten, sie hätten ihn zur vorzeitigen Aufgabe gezwungen – auch wenn einige von ihnen dennoch derartige Gerüchte streuten. Nach einem gemeinsamen Sommer mit Elinor und ihrer Familie in Salem versuchte Robert seine Braut zu überreden, nicht an ihren Studienort zurückzukehren – vergeblich. Ebenso vergeblich waren Elinors Versuche, Robert zu einer Rückkehr nach Dartmouth zu bewegen. Das lehnte er entschieden ab. Bildung finde nicht allein in Klassenzimmern und Hörsälen statt, meinte er, und das sei das Wichtigste gewesen, das er in Dartmouth gelernt habe. Ab jetzt werde er seine Ausbildung selbst in die Hand nehmen, zu seiner Zeit und auf seine Weise.
Er suchte sich Arbeit und fand sie als Hilfskraft in den Arlington Mills, einer großen Textilfabrik nördlich von Lawrence, wo er in den elektrischen Lampen die verbrauchten Kohlefäden austauschen musste. Die Beschäftigung ließ ihm genügend freie Zeit, während der er sich in eine Kammer auf dem Dachboden zurückziehen und dort Shakespeares Theaterstücke studieren konnte. Dabei fiel ihm das Zusammenspiel zwischen dem Rhythmus der Verszeilen und der Intonation der gesprochenen Sätze auf, und er versuchte diesen Qualitäten auf den Grund zu gehen, um sie in seinem eigenen Schreiben umsetzen zu können. Hier wurde möglicherweise der Grundstein zu der eingangs erwähnten, später als sound of sense bekannt gewordenen Auffassung vom Klang eines Gedichts gelegt. Zwar hat Frost diese Idee nie ausführlich im Sinne einer umfassenden Poetologie ausgearbeitet, sie taucht jedoch immer wieder in Briefen, Gesprächen und Vorlesungen auf.
Ein äußerst unerfreuliches Vorkommnis brachte Frost bald zur Überzeugung, dass die Fabrikarbeit für ihn noch weniger in Frage käme als das Unterrichten: Unter den Arbeitern waren einige, die im Jahr zuvor als Schüler mit Frosts Rohrstock Bekanntschaft gemacht hatten. Zunächst begnügten sie sich mit Spott und unflätigen Sprüchen, wenn er in ihre Nähe kam, dann aber kamen Drohungen dazu, der Tag würde kommen, an dem sie sich rächen würden. Um sich zu schützen, gewöhnte er sich an, die Fabrik nur in Begleitung einiger vertrauenswürdiger Kollegen zu betreten und zu verlassen. Handgreifliche Auseinandersetzungen wollte er so lange wie möglich vermeiden. An einem Winterabend jedoch, als er ausnahmsweise allein auf dem Heimweg war, lauerten ihm einige aus der Gruppe auf. Sie schlugen ihn nieder, stießen ihn in den Dreck, schlugen und traten ihn solange, bis er überzeugt war, sie wollten ihn umbringen. Ein Passant, der zufällig einen schweren Stock bei sich hatte, ging dazwischen, und ihm gelang es, die Bande in die Flucht zu schlagen. Als Frost sich aufraffte und sich bedanken wollte, sah er einen zweiten jungen Mann und erkannte in ihm einen ehemaligen Klassenkameraden von der Highschool. Seine beiden Retter wussten offenbar um die Geschichte von Frosts rüden Erziehungsmethoden und verstanden, warum man ihn niedergeschlagen hatte. Nur wenige Worte wurden gewechselt, Frost, Opfer zweifacher Erniedrigung, machte sich auf den Weg nach Hause. Was ihn laut Thompson mehr als die Schläge schmerzte, war der Ausdruck der Verachtung, den er bei seinem Schulkameraden gesehen hatte: die Abscheu darüber, dass ein Valedictorian und Hood-Prize-Gewinner innerhalb so kurzer Zeit zu einem Taugenichts und Schläger verkommen konnte. Frost, der jetzt fürchtete, in weitere Prügeleien dieser Art verwickelt zu werden, nahm bei einem ehemaligen Boxer Unterricht in Selbstverteidigung. Zum Glück belästigten ihn seine Angreifer nicht mehr, doch blieb eine latente Bedrohung bestehen.

 

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