1894: Selbstmordgedanken
Elinor hatte Roberts Anstrengungen, sie zurückzugewinnen, nicht in dem Maße gewürdigt, wie er sich das vorgestellt hatte. Sein Versuch mit Twilight war fehlgeschlagen, und er versank in tiefer Verzweiflung, die ihn an Selbstmord denken ließ. Im Herbst 1894 nahm er einen Zug nach New York City, von dort einen Dampfer, der ihn über Nacht nach Norfolk, Virginia, brachte. Den ganzen Tag wanderte er durch die Vororte und fragte sich durch, den Südarm des Elizabeth River entlang bis zum Rand des Dismal Swamp, ("Großer Düsterer Sumpf"), einem beinahe tausend Quadratkilometer großen Feuchtgebiet in der Grenzregion zwischen Virginia und North Carolina. Diese Gegend hatte zu jener Zeit bereits eine literarische Geschichte, sie war von Schriftstellern – romantisierend – als Zuflucht der Hoffnungslosen besungen worden, und man darf annehmen, dass Frost, der sich bereits intensiv mit Lyrik befasst hatte, entsprechende Werke kannte.Am Abend hatte er die Wildnis erreicht. Seit seinen Kindertagen in San Francisco hatte Frost Angst vor der Dunkelheit, immer noch scheute er sich, nachts ein fremdes Haus zu betreten, jetzt aber war er seelisch so verwundet, dass er mit dem Mut der Verzweiflung weiterlief, weiter und weiter auf einem mondbeschienenen Weg in das Sumpfgebiet hinein. Größer als die Angst war seine Not. Bald wurde der feste Weg zu einem schmalen Steg aus Brettern, der auf Pfosten durch wässriges Gelände führte. Schritt für Schritt tastete er sich vorwärts. Er stellte sich vor, was mit ihm passieren würde, falls er stürzen und sich dabei den Kopf so anschlagen würde, dass er ohnmächtig in das schlammige Wasser fiele. Niemand würde ihn je finden. Es schien, als wollte er genau das. Er war im Begriff sein Leben wegzuwerfen als Vergeltung für Elinors Zurückweisung. Es brauchte dazu nur noch einen kleinen Anstoß von außen, und so lief er immer weiter und tiefer hinein in die Sümpfe, in Erwartung eines solchen Anstoßes.
Der Anstoß kam – zurück ins Leben. Frost traf auf eine beleuchtete Schleuse am Dismal Swamp Canal, den er die ganze Zeit entlanggelaufen war, ohne es zu bemerken. In der Schleuse wartete ein Boot, das in südlicher Richtung unterwegs war und ihn mitnahm. In Elizabeth City, dem südlichen Endpunkt des Kanals, ging eine Partie Entenjäger an Bord. Unter den rauen Gesellen war einer, der Frost nach dem Ende der Jagd auf den Outer Banks – die in erster Linie ein Saufgelage war – helfen wollte, in Elizabeth City einen Job zu finden. Frost hatte vorgegeben, er suche Arbeit, denn einzugestehen, dass er sich wegen Liebeskummer das Leben hatte nehmen wollen, war ihm in dieser Gesellschaft dann doch zu peinlich. Durch die Vermittlung des Bekannten vom Boot, bei dem er einige Tage unterkam, hätte er Arbeit sowohl bei der örtlichen Zeitung als auch in einem Lehrinstitut haben können. Nichts davon wollte er wirklich, und so stahl er sich nach drei Tagen heimlich davon. Nach Art der Hobos schwang er sich auf einen leeren Güterwagen und ließ sich irgendwo hinfahren, egal, ob nach Norden oder Süden. Einige Tage verbrachte er bei denen, die am Rand der Gesellschaft leben, unter "allen Arten von Männern", und hörte ihren Geschichten zu, "einige waren brutal, einige lustig, alle waren gesetzeslos in dem Sinn, dass sie sich an keine obrigkeitlichen Regeln hielten." Er hätte bleiben können, aber "teils schüchtern, teils furchtsam, floh er aus einer freien Gesellschaft".1 In Baltimore fand er einen Job in einem Lebensmittelladen, wo ihn seine Mutter schließlich aufspürte. Am 30. November war er wieder in Lawrence.
Soweit er es selbst einschätzte, war sein Vorhaben, Elinor wieder an sich zu binden, fehlgeschlagen. Einen Trost aber gab es, und der richtete Frost tatsächlich auf: Er erfuhr, dass der Independent am 8. November 1894, also während seiner suizidalen Verirrung in den Sümpfen, sein Gedicht My Butterfly veröffentlicht hatte, und zwar auf der ersten Seite.
Die Erfahrungen auf seiner Reise in den Dismal Swamp und die anschließenden Erlebnisse schlugen sich nachhaltig in Frosts Dichtung nieder. So viele von Frosts besten Gedichten, schreibt Parini, kehrten zu der Szene des einsamen Wanderers in Sumpf oder dichtem Wald zurück, was jeweils sogleich symbolische Aspekte annehme. Das Muster, dem Unbekannten ausgesetzt zu sein, ohne Bindung an Gesellschaft und Familie, findet sich in Gedichten von The Sound of Trees (veröffentlicht 1916 in Mountain Interval) bis zu Directive (1947 in Steeple Bush). Ein unmittelbarer Ertrag des Abenteuers, wenn man so will, war das Gedicht Reluctance, das er 1912 in der Jugendzeitschrift The Youth’s Companion veröffentlichte und im Jahr darauf ebenfalls in seine erste Sammlung, A Boy’s Will, aufnahm, wo er ihm eine herausgehobene Position zuwies, nämlich den Schluss des Bandes. In dem Gedicht kehrt ein Wanderer nach Hause zurück, der Winter kündigt sich an. Das Ende einer Jahreszeit ebenso wie das einer Liebe zu akzeptieren, "mit Anmut der Vernunft nachzugeben und sich zu beugen" empfindet er jedoch als Verrat. Solches liege nicht in der Natur des Menschen, bemerkt Deirdre Fagan. … Ah, when to the heart of man / Was it ever less than a treason / To go with the drift of things, / To yield with a grace to reason, / And bow and accept the end / Of a love or a season? Hart sieht dieses entschiedene moralische Urteil als ein Ergebnis der Wende an, die der Dismal Swamp im Leben Frosts bedeutete.
Auch noch Jahrzehnte später sollten diese ereignisreichen Tage eine wichtige Rolle in Frosts Dichtung spielen: in dem Langgedicht Kitty Hawk, das in seiner endgültigen Version erst in Frosts letzter Gedichtsammlung In the Clearing 1962 erschien, griff er die traumatischen Ereignisse aus seiner Jugend wieder auf. Als er nach fast sechzig Jahren anlässlich eines Besuchs bei Freunden in Kitty Hawk, North Carolina, wieder die Schauplätze aus jener Zeit betrat, begann er mit der Arbeit. Frost bezeichnete es als ein "längliches Gedicht in zwei Teilen", dessen erster Teil persönlich gehalten und eine Beschreibung eines Abenteuers aus seiner Knabenzeit sei. Den zweiten Teil nannte er den "philosophischen Teil". Das mit vielen Andeutungen literarischer und historischer Art angefüllte Gedicht erwähnt unter anderem den ersten Flug der Gebrüder Wright, der 1903 bei Kitty Hawk auf eben jenen Outer Banks stattgefunden hatte, wo Frost 1894 mit den Entenjägern gelandet war. Frost bezeichnete Kitty Hawk als das wichtigste Gedicht, das er in seiner letzten Lebensdekade geschrieben habe. _________________________
1 Zitate nach: Jean Gould, Robert Frost - The Aim Was Song. New York 1964, S. 63 ff.