1897/98: Student in Harvard
Als Wende betrachtete Frost später oft sein Vorhaben, sich an der Harvard University um einen Studienplatz zu bewerben. Den Entschluss dazu fasste er im Sommer 1897 in einem Haus in Amesbury, Massachusetts, das die Familie für die Ferienzeit gemietet hatte. Eine Tacitus-Lektüre hatte ihn auf die Idee gebracht, die Klassiker zu studieren um Latein und Griechisch unterrichten zu können. Er sah darin auch einen Ausweg aus der chronischen Finanznot der Familie. Darüber hinaus hegte er heimlich den Wunsch, bei William James Psychologie und Philosophie zu hören.1 Thompson vermutet, dass Frost James‘ Aufsatz Is Life Worth Living? gelesen hatte, eine Schrift, die sich mit der Frage auseinandersetzte, welche Argumente man jemandem, der an der Schwelle zum Selbstmord steht, entgegenhalten könnte.Leider fiel William James in jenem Jahr wegen Krankheit aus, so musste Frost sich damit zufriedengeben, Ersatzvorlesungen mit James‘ Material zu hören. Er selber sollte, als er zehn Jahre später an der Pinkerton Academy in Derry, New Hampshire, Vorträge hielt, ebenfalls auf Material von William James zurückgreifen.
In besonderem Maße war Frost von William James‘ Gedanken über ein geteiltes, pluralistisches Ich gefangen: Die verschiedenen und oftmals nicht miteinander harmonierenden Ichs würden durch die Mitmenschen bestimmt, die eine "Teilung des Selbst in verschiedene Selbste" verursachten, indem sie unterschiedlichen Verhaltensweisen auch unterschiedliche Identitäten zuschrieben. Frost, der vor nicht allzu langer Zeit von einem Richter als Pack und Krimineller angesehen worden war – Identitäten, die ganz offensichtlich mit seiner eigenen Selbstwahrnehmung in heftigem Widerspruch standen – fühlte sich von James‘ Ansicht, Identitäten seien Fiktionen der Vorstellung anderer, getröstet. "Das Selbst ist der fließende Zustand des Bewusstseins", schrieb er in sein Notizbuch.
Während Frosts Studienzeit lehrte eine Reihe weiterer bedeutender Persönlichkeiten in Harvard, wie etwa der nur elf Jahre ältere George Santayana, der ebenfalls ein Schüler von William James war.2 Für Santayana, Philosoph und Schriftsteller, war Religion mehr ein Ausdruck symbolischer als buchstäblicher Wahrheiten, und damit kam er Frosts Vorstellungen einigermaßen nahe. Frost habe trotzdem, meint Parini, immer eine gewisse Distanz zu Santayana gehalten und eine einzigartige Mischung aus Skeptizismus und Mystizismus gepflegt, "durchtrieben, respektlos und pragmatisch". Thompson meint gar, gewisse Äußerungen Santayanas seien für ihn "geradewegs Blasphemie" gewesen. Vielleicht, schreibt Hart, hätten Santayanas unkonventionelle religiöse Ideen Frost zu sehr an den Atheismus seines Vaters erinnert. Dennoch glaubt Parini einen gewissen Einfluss Santayanas auf Frosts religiöse Haltung zu erkennen, indem Santayana Religion als eine Form der Poesie ansah und umgekehrt Poesie als die Quintessenz eines spirituellen Weltverständnisses.
Auch bei dem Philosophen Josiah Royce studierte Frost. Wie James war auch Royce ein Anhänger der Lehre Darwins, die das christliche Weltbild nachhaltig erschüttert hatte. Mit Sicherheit hat Frost viele Ideen aus zwei Vorlesungen von Royce mitgenommen: "Der Aufstieg der Evolutionslehre" und "Natur und Evolution: Die äußere Welt und ihr Paradoxon". Frost, der sich sein ganzes Leben mit dem Verhältnis von Idealismus bzw. Religion und Naturwissenschaften befasste, ließ dieses Spannungsverhältnis in Gedichten aufscheinen wie The Demiurge’s Laugh (1913 in A Boy’s Will veröffentlicht) oder Design, jenem unheimlichen Gedicht von 1936 (in A Further Range), das hinter den Grausamkeiten der Welt einen (göttlichen) Plan vermutet: … What but design of darkness to appall? – / If design govern in a thing so small. Deirdre Fagan sieht den Leser hier vor das Dilemma gestellt: entweder habe man es mit einem undurchsichtigen und bösartigen Schöpfer zu tun, oder es gebe überhaupt keinen göttlichen Plan, und man müsse sich mit dem amoralischen Charakter der Natur abfinden. Sein ganzes Leben sprach Frost "über James, Darwin und das Problem des Glaubens in einer Welt, die wissenschaftliche Wahrheiten höher einzuschätzen scheint als religiöse oder poetische Wahrheiten", zitiert Parini einen engen Freund von Frost, den Rabbiner Victor Reichert. _________________________
1 William James (1842–1910), US-amerikanischer Psychologe und Philosoph; gilt als Begründer der wissenschaftlichen Psychologie in den USA. 2 George Santayana (1863–1953), spanisch-amerikanischer Philosoph, Essayist, Dichter und Schriftsteller.