1913: Frost gerät in England unter die Dichter-Avantgarde
Frost lernte in diesen Wochen eine Reihe von Englands bekanntesten Dichtern und Schriftstellern kennen. Der Höhepunkt war eine – von Ezra Pound1 vermittelte – Einladung zu einem der regelmäßigen Montagabendtreffen bei William Butler Yeats2. Bereits im Vorfeld hatte Yeats Frosts Gedichte gegenüber Pound gepriesen, sie als die beste Dichtung bezeichnet, die seit langem aus Amerika gekommen sei. Für Frost bedeutete dieses Lob außerordentlich viel, nicht nur, weil es von dem führenden Dichter englischer Sprache kam, sondern auch, weil er dessen Theaterstücke kannte und sehr schätzte und schon an der Pinkerton Academy von seinen Schülern hatte aufführen lassen. Für Frost war die Begegnung mit Yeats der endgültige Abschied von einer Zeit, in der ihn berühmte Namen eingeschüchtert hatten. Jetzt war er dabei, selbst in die tonangebenden Kreise zeitgenössischer englischsprachiger Poeten einzutreten.
Als Frost zu diesen Dichtern stieß, befand sich die Szene in stürmischem Umbruch. Wie Ford Madox Ford3, Dichter, Schriftsteller und Herausgeber zweier literarischer Zeitschriften, später schrieb, war es Londons beste Zeit, die Stadt war „unerreicht in ihrer Assimilationskraft.“ Pound hatte aus Amerika bestimmte Vorstellungen von zeitgenössischer Poesie mitgebracht, die sich bald zu einem -ismus verdichten sollten, dem Imagismus. Gemeinsam war den Imagisten neben der Ablehnung traditioneller romantischer bzw. viktorianischer Formen die Neigung, mit neuen Formen der Dichtung zu experimentieren, etwa dem Gebrauch der Umgangssprache oder Verwendung des vers libre, einer freien Versform, die sich Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in Frankreich herausgebildet hatte und auf traditionelle lyrische Formen wie Reim oder Metrum verzichtete. Zwar experimentierte auch Frost gelegentlich mit solchen Formen, als Grundlage seiner ernsthaften dichterischen Arbeit aber lehnte er sie zeitlebens ab.
Zunächst aber sollte Robert Frost von der Bekanntschaft mit dem zwölf Jahre jüngeren Ezra Pound sehr profitieren. Amerikaner wie Frost, war Pound unter anderem als Londoner Korrespondent der erst einige Monate zuvor in Chicago gegründeten Zeitschrift Poetry tätig und wollte erklärtermaßen dazu beitragen, dass aus der Monatsschrift das führende Blatt avantgardistischer Dichter in englischer Sprache weltweit würde. In der Ausgabe vom März 1913 veröffentlichte er sein mit dem Dichterpaar Richard Aldington4 und Hilda Doolittle5 (bekannt unter ihren Initialen „H.D.“) abgestimmtes imagistisches Manifest, das drei hauptsächliche Prinzipien beinhaltete: 1. Direkte Behandlung des Gegenstands, subjektiv oder objektiv; 2. Absolut kein Gebrauch von Wörtern, die nichts zur Darstellung beitragen, 3. Bezüglich des Rhythmus: komponieren in der Abfolge der musikalischen Phrase, nicht nach der eines Metronoms.
Pound hatte – auf Frank S. Flints6 Empfehlung hin – Frost seine Karte zugeschickt und ihn zu sich eingeladen. Pound studierte bei diesem Besuch den Vorabdruck von A Boy’s Will und war davon so angetan, dass er Frost versprach, auf der Stelle eine Rezension des Buches für Poetry zu verfassen.
Trotz der Aufmerksamkeit von Seiten der Literaten befürchtete Frost, die Fachkritik würde A Boy’s Will übersehen. „Ich bin in Todesangst“, schrieb er am 4. April 1913 an seinen Freund John Bartlett, „dass die Rezensenten keine Notiz davon nehmen. Ein solches Buch verkauft sich ja nur aufgrund von Zeitungsberichten.“ Die ersten Besprechungen, die in englischen Zeitungen erschienen, waren nicht unbedingt geeignet, Frosts seelische Verfassung aufzuhellen. Die literarische Wochenzeitung Athenaeum schrieb in einer kurzen Notiz: „Viele seiner Verse gehen nicht über das Gewöhnliche hinaus, wenn auch hie und da eine glückliche Zeile oder Wendung dankbar im Gedächtnis hängen bleibt.“ Geringfügig besser klang es einige Tage später in der Literaturbeilage der Times: „Es gibt eine wohltuende Individualität in diesen Stücken: der Schriftsteller scheut sich nicht, seine einfachsten Gedanken und Fantasien zu äußern. Diese entspringen der Fähigkeit, sich vollständig auf die Einflüsse der Natur und der freien Luft einzulassen und sind oft auf naive Weise einnehmend. Manchmal lässt er den Leser innehalten und nachdenken, obwohl der Gedanke vielleicht nur schwach oder undeutlich zum Ausdruck kommt (wie in der letzten Strophe des ansonsten bemerkenswerten Gedichts The Trial by Existence).“ Auch in anderen Besprechungen tauchten Formulierungen auf, die Frosts Dichtung in einer Weise charakterisierten, die ihm als grundlegendes Missverständnis erschien. Man betonte ihre „einfachen Ursprünge“ (The English Review), die „Einfachheit des Ausdrucks“ (Poetry and Drama) oder hob den ländlichen Hintergrund eines „Versbuchs der Ferne“ hervor, mit gelegentlich einer „kleinen Wendung leisen Humors wie ein plötzliches Kräuseln der Brise auf stillem Wasser“ (T.P.‘s Weekly). Gar von „einfacher Waldphilosophie“ war in T.P.‘s die Rede – als „wohltuend“ empfunden nach den „subtilen Raffinessen“ eines zuvor besprochenen Gedichts von Rabindranath Tagore. Einen „wilden, rassigen Geschmack“ hätten Frosts Gedichte – Schlagwörter des Primitivismus, wie John E. Walsh schreibt. Solche Hinweise auf eine „naive“ oder „einfache“ Natur seiner Verse, die auf eine Art Bauernhofdichtung abzielten und ihn als philosophierenden Naturburschen erscheinen ließen, verärgerten Frost. _________________________
1 Ezra Pound (1885–1972), US-amerikanischer Dichter, herausragender Vertreter der literarischen Moderne
2 William Butler Yeats (1865-1939), irischer Dichter, einer der bedeutendsten englischsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Träger des Literaturnobelpreises 1923
3 Ford Madox Ford (1873–1939), englischer Schriftsteller, Dichter, Kritiker und Zeitschriftenverleger; Gründer der English Review und Herausgeber der Transatlantic Review
4 Richard Aldington (1892-1962), englischer Schriftsteller, früher Vertreter der "Imagisten"-Bewegung
5 Hilda Doolittle ("H.D.", 1886-1961), US-amerikanische Schriftstellerin
6 Frank Stuart Flint (1885–1960), englischer Dichter, Kritiker und Übersetzer